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Wie im Gehirn „Aufmerksamkeit“ entsteht

von Frank Baranowski
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(lnp) Wie im Gehirn „Aufmerksamkeit“ entsteht. Neurowissenschaftler aus Tübingen und Japan klären bisher unverstandenes Prinzip. Winzige Augenbewegungen filtern „wichtige Reize“ und melden sie ans Gehirn.

Neurowissenschaftler aus Tübingen und Japan haben einen einfachen Mechanismus der „Aufmerksamkeit“ aufgedeckt: Diese messtechnisch nicht fassbare Größe soll beschreiben, wie stark wir auf einen visuellen Reiz reagieren. Ein internationales Team aus Neurowissenschaftlern des Werner Reichardt Centrums für Integrative Neurowissenschaften (CIN) der Universität Tübingen und des National Institute for Physiological Sciences (NIPS) in Okasaki erklärt den Mechanismus der „Aufmerksamkeit“ nicht anhand unseres Sehsystems, sondern über den Rhythmus und die Richtung winziger Augenbewegungen, die wir ständig machen. Ihre Thesen und experimentellen Daten stellen sie in zwei zusammenhängenden Artikeln vor, die kürzlich im Fachjournal Frontiers in System Neuroscience erschienen sind. Ergebnisse aus vier Jahrzehnten Forschung erscheinen nun in einem gänzlich neuen Licht.

Gute Wissenschaft soll „sparsam“ sein, das heißt, sie soll ohne weitgehende Vorannahmen und Abstraktion auskommen. In der Neurowissenschaft gilt die „Aufmerksamkeit“ als wenig sparsames Konzept: Sie ist quasi eine Art „Black Box“, und welche Prozesse im Gehirn damit eigentlich gemeint sind, ist eine zentrale Frage in der Wahrnehmungsforschung.

Seit Jahrzehnten galt, dass „Aufmerksamkeit“ ein kaum näher definierbarer Zustand in bestimmten Gehirnregionen ist. Bei der visuellen Wahrnehmung etwa werden im Colliculus Superior, einem Teil des Mittelhirns, Augenbewegungen auf einen Reiz hin ausgelöst. Die Aufmerksamkeitslenkung im Gehirn reagiert auf Reize nicht immer gleich: Bei hoher „Aufmerksamkeit im Wahrnehmungsapparat“ erfolgt die Reaktion schnell und intensiv, die Neurowissenschaft nennt diesen Zustand „Attentional Capture“. Bei langsamer und gedämpfter Reaktion dagegen besteht die sogenannte „Inhibition of Return“ (IOR). Attentional Capture und IOR erfolgen in schnellem Wechsel, und zwar in einem Rhythmus mit ca. zehn Ausschlägen pro Sekunde.

Aber was verursacht diesen Rhythmus, und wie steuert die „Aufmerksamkeit“ ihn? Dem internationalen Forscherteam gelang es nun, in einem erstaunlich einfachen Modell die Prozesse abzubilden, die dahinterstecken könnten. Die Neurowissenschaftler des CIN und des NIPS kooperieren unter Leitung von Dr. Ziad Hafed (Tübingen) seit mehreren Jahren. Ihr Interesse gilt einem Phänomen, das sie als zunehmend bedeutsam für die visuelle Wahrnehmung erkannten: winzige Augenbewegungen, sogenannte Mikrosakkaden. Diese Feinjustierungen treten auf, wenn wir den Blick auf einen Gegenstand fixieren, sie korrigieren dabei ständig die Blickachse nach. Mikrosakkaden werden wie andere Augenbewegungen auch im Colliculus Superior erzeugt. Die Forscher um Hafed fanden bereits in früheren Studien heraus, dass sie einem festen Rhythmus folgen, der jeweils neu beginnt, wenn ein neuer Reiz ins Blickfeld kommt, und sie wechseln dabei jedesmal die Richtung.

Ausgehend von diesen Beobachtungen stellten Hafed und seine Kollegen die Frage: Was, wenn der Rhythmus und die Richtung von Mikrosakkaden unmittelbar den Rhythmus von Attentional Capture und IOR auslösten? Auf Basis dieser Annahme entwarfen sie im Computer ein theoretisches Modell und fütterten es mit unterschiedlichen Parametern, um herauszufinden, welche Vorhersagen sich daraus ableiten ließen. Anschließend prüften die Forscher in Experimenten, inwieweit das Modell in der Lage wäre, die Wirklichkeit vorherzusagen. Überrascht stellten sie fest, dass Attentional Capture und IOR direkt mit Mikrosakkaden einhergehen und keine weiteren Faktoren benötigen.

Ziad Hafed meint: „Aufmerksamkeit“ ließe sich auch „sparsamer“ erklären. Seiner Meinung nach filtert das Gehirn „wichtige“ Reize ganz einfach über sakkadiale Korrekturen der Blickrichtung heraus. Diese erzeugen bei jedem eintreffenden Reiz das, was bisher als Attentional Capture oder IOR beschrieben wurde. Welches von beiden eintritt, hängt vom Zeitpunkt des Reizes innerhalb des mikrosakkadialen Rhythmus ab, und von seiner Richtung relativ zur aktuellen Mikrosakkade. Der Befund sei ein starkes Argument dafür, dass der Mechanismus der „Aufmerksamkeit“ auf einem sehr simplen Prinzip beruhe, meint Hafed. „Sollte sich dies in weitergehenden Studien bestätigen, dann wirft das ein ganz neues Licht auf die Forschungsergebnisse mehrerer Jahrzehnte.“

Publikationen:
1. Ziad M. Hafed, Chih-Yang Chen, Xiaogang Tian: Vision, Perception, and Attention through the Lens of Microsaccades: Mechanisms and Implications. Frontiers in Systems Neuroscience. 2. Dezember 2015. (doi: 10.3389/fnsys.2015.00167)

2. Xiaoguang Tian, Masatoshi Yoshida, Ziad M. Hafed: A Microsaccadic Account of Attentional Capture and Inhibition of Return in Posner Cueing. Frontiers in Systems Neuroscience (im Druck). 22. Februar 2016.

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Quelle: Pressemitteilung Eberhard Karls Universität Tübingen vom 14.04.2016.

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